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17.08.2022 Fremdenrecht: Die vom BVwG angenommene Rechtswidrigkeit der Abschiebung war wegen deren Unverhältnismäßigkeit vertretbar (Fall "Tina")

Ra 2022/21/0093 vom 26. Juli 2022

Der vorliegende Fall betrifft die Abschiebungen einer Mutter und ihrer beiden Töchter (im Zeitpunkt der Abschiebung zwölfeinhalb und fünf Jahre alt) nach Georgien. Nach zwei erfolglosen Asylverfahren kehrten die Mutter und ihre ältere, damals einzige, Tochter in Befolgung der gegen sie erlassenen Ausweisungen zunächst freiwillig nach Georgien zurück. Nach ihrer Wiedereinreise stellte die Mutter erneut für sich und ihre ältere Tochter, sowie nach Geburt der zweiten Tochter auch für diese, wiederholt Anträge auf internationalen Schutz. Die zuletzt gestellten Anträge wurden schließlich vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im September 2019 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig erließ das BVwG Rückkehrentscheidungen (die Verpflichtung der Mutter und ihrer Töchter das Land zu verlassen).

Im Jänner 2021 wurden die Mutter und ihre beiden Töchter - zur zwangsweisen Durchsetzung der Rückkehrentscheidungen - nach Georgien abgeschoben.

Gegen diese Abschiebung erhoben sie Maßnahmenbeschwerde an das BVwG, das der Beschwerde stattgab und sie für rechtswidrig erklärte. Dabei ging das Gericht davon aus, dass sich die Umstände seit der Erlassung der Rückkehrentscheidungen im September 2019 derart geändert hätten, dass die Wirksamkeit der Rückkehrentscheidungen zum Zeitpunkt der Abschiebungen nicht mehr hinreichend gesichert gewesen sei und daher die Abschiebungen unverhältnismäßig gewesen seien.

Gegen die Entscheidung des BVwG erhob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eine Amtsrevision. Darin wandte sich das BFA insbesondere gegen die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK.

Vorweg hielt der VwGH fest, dass es selbst beim Vorliegen aller Voraussetzungen im behördlichen Ermessen liegt, ob ein Fremder abgeschoben wird. Eine unbedingte Abschiebeverpflichtung besteht nicht.

Die Rechtmäßigkeit der Abschiebung ist zum Zeitpunkt ihrer Durchführung zu beurteilen. Einerseits kann die Rückkehrentscheidung - als Grundlage der Abschiebung - ihre Wirksamkeit verlieren, wenn in der Zwischenzeit die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) nunmehr zu Gunsten des Fremden ausfällt. Dies ist dann der Fall, wenn die privaten Interessen des Fremden am Verbleib in Österreich die entgegenstehenden öffentlichen Interessen an seiner Außerlandesbringung überwiegen. Andererseits kann die dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebot unterliegende Abschiebung rechtswidrig sein, wenn sich die für den Fremden sprechenden Umständen in einem Ausmaß geändert haben, dass die Abschiebung als unverhältnismäßig anzusehen ist. Insbesondere Art. 8 EMRK ist bei jedem Stadium einer fremdenpolizeilichen Amtshandlung zu beachten.

Bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK ist nach der Rechtsprechung des VwGH zum einen (auch) darauf Rücksicht zu nehmen, ob ein Fremder sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sein müsste (was gegen seine Interessen sprechen würde). Dieser Umstand schlägt auf Kinder des Fremden durch, wenn auch mit weniger Gewicht. Zum anderen ist aber auch das Kindeswohl "gebührend" zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre (bisherige) Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem "anpassungsfähigen" Alter befinden.

Entscheidend vor dem BVwG war die im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK aufgeworfene Frage, ob das grob missbräuchliche fremdenrechtliche Fehlverhalten der Mutter (mehrmalige Vereitelung von Abschiebungen) auf die in Österreich geborene, im Zeitpunkt der Abschiebung mittlerweile zwölfeinhalbjährige Tochter maßgeblich durchschlägt oder, ob dem Kindeswohl der älteren Tochter mehr Gewicht zukommt.

Bei der Lösung dieser Frage durch das BVwG handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung, die vom VwGH nur dann aufgegriffen werden kann, wenn die Interessenabwägung krass fehlerhaft und somit in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise erfolgt ist.

Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass sich die zwölfeinhalbjährige Tochter in den 16 Monaten zwischen Erlassung der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung weiter integriert und sozialisiert habe. Sie habe sich nicht mehr in einem "anpassungsfähigen" Alter befunden. Unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls habe sich die Sachlage daher derart geändert, dass nicht ausreichend gesichert gewesen sei, ob die gegen die ältere Tochter erlassene Rückkehrentscheidung noch wirksam gewesen sei.

Für den VwGH war diese Beurteilung nicht unvertretbar, zumal die zwölfeinhalbjährige Tochter in Österreich geboren wurde, hier auch mehr als 10 Jahre lebte und eine hervorragende, auch schulische Integration aufweist. Diese Entscheidung schlägt wiederum auch auf die Mutter und die kleinere Schwester durch. 

Weil in diesem Einzelfall keine krasse Fehlbeurteilung des BVwG vorlag und es dem BFA somit nicht gelang, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen, war keine weitere inhaltliche Behandlung der Amtsrevision vorzunehmen, sondern sie zurückzuweisen.


Volltext der Entscheidung