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Asyl- und Fremdenrecht: Zum Kindeswohl und dem Recht auf Vernehmung von Kindern bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen

Ra 2023/20/0125 bis 0130 vom 25. Oktober 2023

Gegen die revisionswerbenden Parteien, ein aus Aserbaidschan stammendes Ehepaar mit ihren vier in Österreich geborenen gemeinsamen Kindern, wurden - im Gefolge von erfolglos gebliebenen Asylanträgen - Rückkehrentscheidungen erlassen.

Anlässlich der von ihnen erhobenen Revisionen fasste der VwGH seine bisherige Rechtsprechung zur Beachtung des Kindeswohls im Rahmen der Erlassung von Rückkehrentscheidungen zusammen, ergänzte diese Rechtsprechung und setzte sich näher mit dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien auseinander, dass ihrer Ansicht nach Minderjährige im Verfahren zur Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen persönlich anzuhören seien.

Gemäß § 9 BFA‑VG ist bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen der durch Art. 8 EMRK eingeräumte Schutz des Privat- und Familienlebens zu beachten. Die Beurteilung, ob ein Eingriff in dieses Recht verhältnismäßig ist, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls stattzufinden. Dabei kommt es im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung mit den privaten und familiären Interessen des Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet. Dabei ist - auch wenn schon früher gegen den betreffenden Fremden eine Rückkehrentscheidung erlassen worden war, die er nicht befolgt hat - immer auf die Sach- und Rechtlage im Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen.

Im Rahmen dieser Abwägung ist es erforderlich, sich auch mit den Auswirkungen auf das Kindeswohl auseinanderzusetzen. Dabei sind nach der Rechtsprechung des VwGH die besten Interessen und das Wohlergehen des Kindes, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, dem es im Heimatstaat begegnet, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat, als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Bindung zum Heimatstaat ist dabei auch die Frage, wo das Kind geboren wurde, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld es gelebt hat, wo es seine Schulbildung absolviert hat, ob es die Sprache des Heimatstaats spricht und es sich in einem anpassungsfähigen Alter befindet.

Der VwGH hat weiters in seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten, dass auch im Bereich verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, die im Zivilrecht (§ 138 ABGB) genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab herangezogen werden können. Er hob aber anlässlich der nunmehrigen Entscheidung hervor, dass die Bestimmungen des § 138 ABGB in einem anderen - nämlich familienrechtlichen - Kontext stehen und andere Zwecke verfolgen als die hier maßgeblichen verwaltungsrechtlichen Regelungen. Bei der Erlassung einer Rückkehrentscheidung sind auch öffentliche Interessen zu berücksichtigen, sodass dem Kindeswohl im Rahmen der Abwägung nach § 9 BFA‑VG kein absoluter Vorrang zukommt. Im Besonderen kann dem bloßen Wunsch eines Fremden (das gilt auch für einen minderjährigen Fremden), in Österreich zu bleiben, kein erhöhter Stellenwert beigelegt werden. Das Kindeswohl stellt zwar einen Aspekt dar, auf den bei der Gesamtabwägung Rücksicht zu nehmen ist; es ist aber nicht das allein ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab.

Zur Frage, ob Kinder im Rahmen einer Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht befragt werden müssen, führte der VwGH aus, dass es nach den Verfahrensgesetzen grundsätzlich zulässig ist, Kinder als Beteiligte und Zeugen zu vernehmen, wobei es immer nur um die Feststellung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhalts geht und bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben von Kindern die geringere geistige Reife und deren - gerade bei jüngeren Kindern - zuweilen lebhafte Fantasie berücksichtigt werden muss. Bei jeglichen verfahrensleitenden Anordnungen, die dem Zweck der Vernehmung von Minderjährigen dienen, ist aber darauf Bedacht zu nehmen, dass eine Vernehmung vor einer Behörde oder einem Gericht für Kinder grundsätzlich mit einer besonderen Belastung verbunden ist. Vom VwGH wurden daher in der vorliegenden Entscheidung Leitlinien definiert und dabei auch besondere Anforderungen an Beweisanträge, die auf die Vernehmung von Kindern abzielen, formuliert.

Es ist nach den für das Verwaltungsverfahren vor der Behörde und den Verwaltungsgerichten maßgeblichen allgemeinen Verfahrensgesetzen aber nicht vorgesehen, Kinder bloß zur Einholung ihrer Meinung (samt ihren Wünschen) zu vernehmen. Dabei handelt es sich nämlich nicht um Beweisaufnahmen, sondern um Erklärungen, die verfahrensrechtlich bei Äußerungen im Rahmen des Parteiengehörs abgegeben werden können. Solche Erklärungen sind für Minderjährige, die in der Regel nicht prozessfähig sind, vom gesetzlichen Vertreter (üblicherweise von ihren Eltern) und nicht von den Minderjährigen selbst abzugeben.

In den vorliegenden Fällen hat das Bundesverwaltungsgericht keine umfassende Beurteilung der im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen gesamten Sachlage, zu der es auch keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat, vorgenommen und sich im Besonderen auch nicht ausreichend mit der Situation der Kinder auseinandergesetzt, sondern nur auf deren "anpassungsfähiges Alter", das aber nur eines von mehreren zu berücksichtigenden Kriterien ist, abgestellt.

Da das Bundesverwaltungsgericht somit bei der Prüfung, ob gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen zu erlassen sind, einen unrichtigen Maßstab angelegt hatte, hob der VwGH insoweit die angefochtenen Entscheidungen auf.


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Volltext der Entscheidung