Der Gebrauch von Cookies erlaubt uns Ihre Erfahrung auf dieser Website zu optimieren. Wir verwenden Cookies zu Statistikzwecken und zur Qualitätssicherung. Durch Fortfahren auf unserer Website stimmen Sie dieser Verwendung zu.

Weitere Informationen

Image-Film abspielen

Information
Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

15.11.2023 Frage der Vereinbarkeit des Kommunikationsplattformen-Gesetzes mit dem Unionsrecht

Ro 2021/03/0032-0034 (EU 2022/0003-0005) vom 24. Mai 2022, C-376/22

Mit 1. Jänner 2021 trat in Österreich das Kommunikationsplattformen-Gesetz (KoPl‑G) in Kraft. Das KoPl‑G zielt auf eine Stärkung der "Plattformverantwortlichkeit" der Anbieter von Kommunikationsplattformen ("sozialen Medien") ab, indem es (auch ausländische) Anbieter von Kommunikationsplattformen, ähnlich dem deutschen Netzwerkdurchsuchungsgesetz, unter anderem dazu verpflichtet, ein Melde- und Überprüfungsverfahren für rechtswidrige Inhalte einzurichten, regelmäßige Transparenzberichte über den Umgang mit Meldungen zu veröffentlichen sowie im Inland verantwortliche und erreichbare Personen zu bestellen. Die vom KoPl‑G erfassten Plattformen unterliegen der Aufsicht durch die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria). Bei Verstößen gegen bestimmte im KoPl‑G festgelegte Verpflichtungen kann die KommAustria Geldstrafen in der Höhe von bis zu zehn Millionen Euro verhängen.

Im Ausgangsverfahren beantragten drei größere Anbieter von Kommunikationsplattformen (Google, Meta und TikTok) mit Sitz in Irland die Feststellung durch die KommAustria, dass das KoPl‑G auf sie nicht anwendbar sei.

Sowohl die KommAustria als auch das in weiterer Folge angerufene Bundesverwaltungsgericht stellten je mit unterschiedlicher Begründung fest, dass das KoPl‑G auf die Anbieter zur Anwendung kommt (siehe auch hier).

Dagegen richteten sich die Revisionen, in denen die Anbieter im Wesentlichen vorbrachten, dass die Bestimmungen des KoPl‑G nicht mit dem Unionsrecht, im Speziellen mit der E‑Commerce‑Richtlinie und der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD‑RL), vereinbar seien.

Auch für den VwGH steht nicht zweifelsfrei fest, ob die Bestimmungen des KoPl‑G mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

Bei den von den Anbietern angebotenen Diensten handelt es sich um Dienste der Informationsgesellschaft im Sinne der E‑Commerce‑Richtlinie. Im Wesentlichen sieht die E‑Commerce‑Richtlinie für solche Dienste in Art. 3 Abs. 2 vor, dass der freie Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedsstaat nicht aus Gründen eingeschränkt werden darf, die in den koordinierten Bereich fallen. Der koordinierte Bereich umfasst die für Dienste der Informationsgesellschaft bzw. deren Anbieter in den Rechtssystemen der Mitgliedsstaaten festgelegten Anforderungen hinsichtlich der Aufnahme und Ausübung der Dienste. Die Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft unterliegen in diesem Bereich – grundsätzlich – somit nur den Regelungen ihres Herkunfts- bzw. Sitzstaats (Herkunftslandprinzip).

Art. 3 Abs. 4 E‑Commerce‑Richtlinie erlaubt jedoch, dass andere Mitgliedstaaten unter gewissen Voraussetzungen vom Herkunftslandprinzip abweichen dürfen, indem er vorsieht, dass "die Mitgliedstaaten […] Maßnahmen ergreifen [können], die im Hinblick auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft von Absatz 2 abweichen".

Der VwGH nimmt an, dass mit dem KoPl‑G Regelungen erlassen wurden, die den koordinierten Bereich im Sinne der E‑Commerce‑Richtlinie berühren. Dabei handelt es sich um allgemeine Verpflichtungen, die für die Anbieter von Kommunikationsplattformen wirksam werden, ohne dass es dazu eines individuell-konkreten Rechtsaktes (etwa eines Bescheids) bedarf.

Fraglich ist für den VwGH nun, ob auch solche allgemeinen Verpflichtungen, wie sie für Anbieter von Kommunikationsplattformen im KoPl‑G vorgesehen sind, ohne dass ein individuell-konkreter Rechtsakt dazwischentritt, "Maßnahmen" im Sinne von Art. 3 Abs. 4 E‑Commerce‑Richtlinie darstellen können (1. Frage).

Die E‑Commerce‑Richtlinie sieht auch die Einhaltung bestimmter Formvorschriften bei der Ergreifung von Maßnahmen vor. So ist zunächst der Sitzstaat aufzufordern, selbst Maßnahmen zu ergreifen. Sollte der Sitzstaat untätig bleiben, ist vor der Ergreifung eigener Maßnahmen der Sitzmitgliedstaat und die Europäische Kommission über die Absicht, eine Maßnahme zu ergreifen, zu unterrichten. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH führt die Verletzung dieser Formvorschriften zur Unanwendbarkeit der Maßnahme (Einzelne, auf die die Maßnahme angewendet werden soll, können sich dagegen mit dieser Begründung erfolgreich wehren).

Von diesen Voraussetzungen darf ein Mitgliedsstaat nur in "dringlichen Fällen" abweichen. In diesem Fall müssen die Maßnahmen "so bald wie möglich" und unter Angabe der Gründe, aus denen der Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass es sich um einen dringlichen Fall handelt, der Kommission und dem Sitzmitgliedstaat mitgeteilt werden.

Im Ausgangsfall hatte Österreich weder Irland aufgefordert, selbst Maßnahmen zu ergreifen, noch Irland und die Kommission vorab über die beabsichtigte Einführung des KoPl‑G unterrichtet. Die Erläuterungen des KoPl‑G deuten darauf hin, dass zwar aus Sicht Österreichs ein "dringlicher Fall" vorlag, aber bis zum für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt erfolgte keine nachträgliche Mitteilung an die Kommission oder Irland. Der VwGH möchte in diesem Zusammenhang wissen, ob die Maßnahme (sollte die gesetzliche Regelung als Maßnahme anzusehen sein) trotz fehlender nachträglicher Benachrichtigung anwendbar ist (2. Frage).

Die 3. Frage betrifft jene Anbieter, die neben der Kommunikationsplattform auch einen Video-Sharing-Plattform-Dienst im Sinne der AVMD‑RL anbieten. Es stellt sich nämlich die Frage, ob das Herkunftslandprinzip, das für Video-Sharing-Plattform-Anbieter in Art. 28a Abs. 1 AVMD‑RL geregelt wird, einer Anwendung der Verpflichtungen des KoPl‑G auf jene Inhalte dieser Plattformen entgegensteht, bei denen es sich nicht um Videos handelt, also insbesondere auf die zu den Videos geposteten Kommentare Art. 28a Abs. 1 AVMD‑RL verweist (bloß) auf Art. 3 Abs. 1 E‑Commerce‑Richtlinie. Fraglich ist, ob auch unter Einhaltung der Vorschriften der E‑Commerce‑Richtlinie vom Herkunftslandprinzip in Art. 28a Abs. 1 AVMD‑RL abweichende Maßnahmen erlassen werden dürfen, sofern sie nicht die auf den Video-Sharing-Plattformen angebotenen Videos betreffen.

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

1. Ist Art. 3 Abs. 4 Buchst. a Ziffer ii) der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr), ABl. L 178 vom 17.7.2000, S. 1, dahin auszulegen, dass unter einer Maßnahme, die einen „bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ betrifft, auch eine gesetzliche Maßnahme verstanden werden kann, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft (wie Kommunikationsplattformen) bezieht, oder erfordert das Vorliegen einer Maßnahme im Sinne dieser Bestimmung, dass eine Entscheidung bezogen auf einen konkreten Einzelfall (etwa betreffend eine namentlich bestimmte Kommunikationsplattform) getroffen wird?

2. Ist Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen, dass das Unterbleiben der nach dieser Bestimmung in dringlichen Fällen „sobald wie möglich“ (nachträglich) vorzunehmenden Mitteilung an die Kommission und den Sitzmitgliedstaat über die getroffene Maßnahme dazu führt, dass diese Maßnahme - nach Ablauf eines für die (nachträgliche) Mitteilung ausreichenden Zeitraums - auf einen bestimmten Dienst nicht angewendet werden darf?

3. Steht Art. 28a Abs. 1 der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl. L 095 vom 15.4.2010, S. 1, in der Fassung der Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) im Hinblick auf sich verändernde Marktgegebenheiten, ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 69, der Anwendung einer Maßnahme im Sinne des Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2000/31 entgegen, die sich nicht auf die auf einer Video-Sharing-Plattform bereitgestellten Sendungen und nutzergenerierten Videos bezieht?

Volltext des Beschlusses

Mit Urteil vom 9. November 2023, C-376/22, antwortete der EuGH wie folgt:

Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt

ist dahin auszulegen, dass

generell-abstrakte Maßnahmen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten, nicht unter den Begriff „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ im Sinne dieser Bestimmung fallen.