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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

29.09.2022 StatusRL: Ist die nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan für Frauen herrschende Situation als asylrechtlich relevante Verfolgung von Frauen einzustufen?

Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028 (EU 2022/0016 und EU 2022/0017) jeweils vom 14. September 2022, C-608/22 und C-609/22

Die den Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegenden Verfahren vor dem VwGH betreffen eine erwachsene afghanische Frau sowie ein 14‑jähriges afghanisches Mädchen. Beide hatten in Österreich Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Ihnen wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zwar subsidiärer Schutz, nicht aber Asyl gewährt. Sie erhoben gegen die Versagung von Asyl Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und brachten (unter anderem) vor, aufgrund der im Sommer 2021 erfolgten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan habe sich dort die Lage derart geändert, dass ihnen allein schon deswegen, weil sie afghanische Frauen seien, Verfolgung drohe und ihnen daher Asyl zu gewähren sei. Das BVwG wies beide Beschwerden ab. Dagegen wendeten sich die Revisionswerberinnen an den VwGH.

Der VwGH erachtete es in den Revisionsverfahren für geboten, zur Klärung der unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL an den EuGH heranzutreten.

Zunächst verwies der VwGH auf seine Rechtsprechung zur Lage von afghanischen Frauen unter der früheren "Taliban-Herrschaft" (1996-2001). Darin hielt er fest, dass die Summe der Eingriffe in die Lebensbedingungen der afghanischen Frauen in ihrer Gesamtheit als derart gravierend einzustufen waren, dass allein schon deswegen von Verfolgung im Sinn der GFK von Frauen auszugehen war. Es kam nach dieser Rechtsprechung nicht darauf an, ob von den Frauen ein Zuwiderhandeln gegen die Vorgaben der Taliban zu erwarten war, und auch nicht darauf, ob im Fall des Zuwiderhandelns (zusätzliche) Unverhältnismäßigkeiten zu gewärtigen waren.

Diese Rechtsprechung erging jedoch zu einer Zeit als gemeinschaftsrechtliche und (später) unionsrechtliche Vorgaben (noch) nicht existiert hatten. In diesem Sinn hat der VwGH bereits kürzlich darauf hingewiesen, dass diese frühere Rechtsprechung zu einer anderen Sach- und Rechtslage ergangen sei.

In den vorliegenden Fällen ist bei der Prüfung der Frage, ob den Revisionswerberinnen der Status der Asylberechtigten hätte zuerkannt werden müssen, nunmehr im Besonderen auf Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL Bedacht zu nehmen. Wie diese Vorschrift auszulegen ist, ist Inhalt der vom VwGH dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen.

Dabei ist klärungsbedürftig, ob die von den Taliban gegenüber Frauen eingeführten Einschränkungen in ihrer Gesamtbetrachtung eine Kumulierung von Maßnahmen darstellt, sodass sich daraus eine solche schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. a StatusRL (auf den die lit. b verweist) ergibt, dass allein schon deswegen von Verfolgung von Frauen zu sprechen ist, weil sich eine Frau in ein solches Leben zu fügen hat (Frage 1.).

Weiters möchte der VwGH wissen, ob es in diesem Zusammenhang für die Zuerkennung von Asyl ausreichend ist, dass die Asylwerberin von den Maßnahmen allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist (weil sie diese zu beachten hat), oder ob bei der Beurteilung eine Prüfung der individuellen Situation der konkreten Asylwerberin vorzunehmen ist (ob und inwieweit sie von den Maßnahmen zudem auch selbst konkret betroffen ist; Frage 2.).

Die Beschlüsse, jeweils im Volltext:

Die Vorlagefragen im Wortlaut

1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

  • die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
  • keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
  • allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
  • einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
  • der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
  • der Zugang zu Bildung ‑ gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) ‑ verwehrt wird,
  • sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
  • ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
  • keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen ‑ in ihrer Kumulierung zu betrachtenden ‑ Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?